Auch in den USA, den arabischen Ländern und in Asien hat der deutsche Nobelpreisträger eine große Leserschaft. Wie ist Hesses weltweite Beliebtheit zu erklären? Ein Gespräch mit dem Hesse-Biographen Gunnar Decker.
Der deutsche Literaturnobelpreisträger von 1946, Hermann Hesse, ist in Deutschland nach wie vor ein "Bestseller-Autor". Immer wieder legen seine Verlage (Suhrkamp vor allem) Neuauflagen seiner berühmten Romane und Erzählungen auf, seine Briefe werden publiziert, Gedichte und Essays. Auch im Ausland wird Hermann Hesse viel gelesen, in Nordamerika, in asiatischen Ländern, auch in der arabischen Welt. Zum Hermann Hesse-Jahr 2012 (der Autor starb vor 50 Jahren am 9. August 1962) erscheinen zahlreiche Bücher über den Autor. In Bern findet ein internationaler Kongress (27.-30.3.2012) statt. Im DW-Gespräch mit dem Hesse-Biografen Gunnar Decker geht es vor allem um die Frage: Wie ist die anhaltende Popularität dieses deutschen Autors im Ausland zu erklären?
Hesses weltweite Wirkung
Deutsche Welle: Herr Decker, Hermann Hesse hat immer wieder Höhen und Tiefen im Ansehen erlebt in Deutschland, aber auch im Ausland? Wie ist das zu erklären?
Gunnar Decker: Hermann Hesse ist ein Autor, der sich den Widersprüchen, in der sich der Einzelne im 20. Jahrhundert befindet, immer wieder gestellt hat. Widersprüche wie die, mit einer Technikentwicklung konfrontiert zu sein, die ihn bedroht, mit äußeren Zwängen, die ihn seiner Autonomie berauben. Er hat sich mit der Frage beschäftigt, wie kann man sich dagegen wehren? Wie kann man aus dieser Entfremdungssituation herauskommen? Er hat die Frage nach einem unentfremdeten Leben gestellt, nach der Balance von Innen und Außen.
Auch in Rußland populär: Hesses "Der Steppenwolf" auf Russisch
Der große Schub, den Hesse in den 1960er/70er Jahren erfahren hat, der war an eine ganz bestimmte Erfahrung gekoppelt: da gab es die Rockgruppe "Steppenwolf", die "Born to Be Wild" gesungen hat, also "Geboren um wild, anders, frei zu leben". Dieser Aufbruchsimpuls war gegen ganz konkrete äußere Konventionen gerichtet, die als Bedrängung empfunden wurden, die als zu eng empfunden wurden. Er war gerichtet gegen den Vietnam-Krieg. Er war gekoppelt an Drogenerlebnisse. Das ist eine ganz bestimmte historische Erfahrung der Hesse-Lektüre gewesen. Hesse hat gefragt: Wie kann ich meine Autonomie behaupten in dieser Situation? Das hat eine starke Symbolkraft gehabt in der amerikanischen Jugendkultur.
Autonomie und Religion als Themen der arabischen Welt
Sie haben Amerika angesprochen, das war die Hippie-Zeit mit den politischen Veränderungen. In welchen Ländern war oder ist Hesse noch populär?
Hesse ist heute gerade in den arabischen Ländern als ein Ermunterer zum Eigenen wichtig. "Folge nicht mir nach, sondern Dir", im Sinne Nietzsches, das spielt eine ganz große Rolle in den arabischen Ländern heute. Diese Frage nach der Autonomie und auch nach der des Religiösen. Nach der eines Religionsverständnisses, das nicht militant, nicht missionarisch ist, sondern offen für andere Lebensentwürfe, für andere Vorstellungen. Das ist ein ganz drängendes Thema im arabischen Raum. Das ist auch eine Aktualität, die sich ganz anders darstellt als bei uns.
Auch ein Genießer: Hermann Hesse
Neben den USA und den arabischen Ländern muss man noch nach Asien schauen, wenn es um Hermann Hesses weltweite Wirkung geht…
In Asien ist das Interesse viel kontinuierlicher gewachsen. Das interessante ist auch, dass man sich dort sehr für Hesse als einen "deutschen Autor" interessiert. Da spielt Hesses ziemlich problematisches Verhältnis zum Nationalen eine Rolle, zum Deutschen. Ich glaube, dass gerade seine Distanz zum Deutschen Hesse im Ausland als "deutschen Autor" gerade wieder interessant macht. Während Thomas Mann ganz fraglos ein ganz klares Verhältnis zum Deutschen hatte - für ihn war klar: Seine Heimat ist Deutschland und von dort aus schreibt er -, ist das bei Hesse viel gebrochener, viel komplizierter.
Distanz zu Deutschland
Er schreibt ja auch sein "alemannisches Bekenntnis", wo er sagt, sein Verhältnis zu Grenzen, zu Landes- und Staatsgrenzen, ist ein höchst fragwürdiges. Und welcher Staatsbürgerschaft er bei seiner Geburt war, weiß er eigentlich gar nicht so genau. Wahrscheinlich russischer. Hinzu kommt Hesse mit seinem Missionarshintergrund: die Eltern waren pietistische Missionare, haben lange in Indien gelebt. Das ist eine Form von Weltbürgertum mit paradoxerweise sehr provinziellem Anstrich. Aber all das hat verhindert, dass die Hesses, auch die Großväter und Väter, jemals "gute Staatsbürger" waren. Sie haben immer auch eine andere Perspektive auf Staat und diese historisch begrenzten Formen von Existenz gehabt. Sie haben immer viel ursprünglicher gefragt: Wie soll ich richtig leben? Das ist eine Frage, die bei Hesse immer wieder dazu geführt hat, sich bewußt zu machen, dass eigentliche Leben, die eigentliche Existenz, liegt für ihn in der Sprache. Die Sprache ist die eigentliche Wirklichkeit. Worte sind etwas Magisches. Mit ihnen kann man zaubern.
Dieses Grundverständnis, dieses Zurückgehen hinter Fragen wie "Welche Nationalität bin ich?", "In welchem Land lebe ich?" besitzt auch etwas Verbindendes. Das hat bei Hesses etwas universelles, auch etwas globalisierungskritisches. In dem Sinne, dass man immer wieder fragt: Was ist denn eigentlich das Leben? Wie sieht das Leben aus, das wir eigentlich alle leben sollten, ein unentfremdetes, menschliches? Und wie können wir zusammen leben trotz aller Dinge, die uns trennen? Da ist Hesse ein Autor, der viele Brücken baut.
Gunnar Decker: "Hesse - Der Wanderer und sein Schatten", Hanser Verlag 2012, 704 Seiten, 26.- Euro, ISBN 978-3446238794.
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