Es scheint Präsident Obamas "Lateinamerika-Monat" zu sein: Er empfängt die Präsidenten aus Mexiko und Brasilien und reist zum Amerika-Gipfel in Cartagena. Doch sonst steht der Kontinent eher am Ende der Prioritätenliste.
Wer in US-Zeitungen Berichte über Lateinamerika finden will, muss schon sehr genau hinschauen. Am Tag nach dem Nordamerika-Gipfel im Weißen Haus, als Präsident Obama den mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón und den kanadischen Premierminister Stephen Harper empfangen hatte, druckte die New York Times ein Foto der Drei auf Seite 17. Die Überschrift lautete: "Präsident zuversichtlich, dass Gesundheitsreform bestehen bleibt".
Denn die erste Frage der amerikanischen Journalisten bei der gemeinsamen Pressekonferenz der drei Politiker - und der Hauptteil des Zeitungsartikels - bezog sich auf Obamas innenpolitisches Vorzeigeprojekt, das derzeit vor dem US-Verfassungsgericht anhängig ist. Erst im zweiten Teil geht die Zeitung auf den eigentlichen Anlass der Pressekonferenz ein. Dabei gibt es gerade zwischen den USA und Mexiko viel Diskussionsstoff, allen voran der Strom der illegalen Einwanderer und der Drogenschmuggel Richtung Norden sowie der Waffenschmuggel in die andere Richtung. Über diese Themen, immerhin, finden sich regelmäßig Berichte in den Zeitungen.
Sorge über undemokratische Vorgänge
Doch die restlichen Länder Lateinamerikas stehen nicht im Mittelpunkt der Berichterstattung, "weil es hier um andere Themen geht als im Nahen Osten oder Afghanistan", erklärt Ted Piccone, Lateinamerika-Experte am Brookings Institut im Interview mit DW. In der Obama-Regierung gebe es durchaus Aktivitäten in Bezug auf die Staaten des amerikanischen Kontinents: Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit, Drogenbekämpfung und erneuerbaren Energien sowie Ausbau der Handelsbeziehungen erklärt Piccone, der sowohl im Nationalen Sicherheitsrat als auch im Außenministerium und im Pentagon tätig war.
Tatsächlich wurde im Herbst letzten Jahres ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und Kolumbien unterzeichnet – allerdings erst, nachdem es jahrelang im Kongress hängen geblieben war. In mehreren Ländern, unter anderem Ecuador, Venezuela und Bolivien, haben die USA aber beispielsweise keinen Botschafter. Auch hier blockiert der Kongress – unter anderem, weil die Abgeordneten besorgt sind über undemokratische Entwicklungen in den Ländern, die 2001 die inter-amerikanische demokratische Charta unterzeichnet haben. Piccone nennt Beispiele für besorgniserregende Vorgänge: Einschränkung der Meinungsfreiheit in Ecuador und Venezuela, Unregelmäßigkeiten bei Wahlen in Nicaragua, massive Gewalt in Mexiko. Doch in der US-Regierung ist man sich bewusst, dass man in Lateinamerika den Polizisten weder spielen kann noch will.
Bilaterale Handelsabkommen, China und Brasilien
Chinas Einfluss in Lateinamerika wird in den USA mit Sorge gesehen
So geht es in den us-lateinamerikanischen Beziehungen zuallererst um Handel. Den Plan von 1994, eine gesamtamerikanische Freihandelszone zu schaffen, hat man schon lange aufgegeben. Zusätzlich zur NAFTA, die die USA, Kanada und Mexiko verbindet, werden stattdessen bilaterale Abkommen geschlossen, wie zuletzt mit Kolumbien und Panama. Doch die USA haben hier einen neuen Rivalen bekommen, gegen den sie bisher wenig ausgerichtet haben: China. Finanzstark und mit großem Rohstoffbedarf investieren und handeln die Chinesen mit Venezuela, Kuba, Brasilien oder Chile.
Für die USA, so Ray Walser, Lateinamerika-Experte der konservativen Heritage-Foundation, ist aber die geographische Nähe der USA zu den südlicheren Partnern immer noch ein entscheidender Standortvorteil. Und wenn es beispielsweise um Tourismus geht, "kann man in den USA viel mehr Spaß haben als in China", so Walser im Interview mit DW. Auch Ted Piccone verweist auf die geografische Nähe und eine lange Handelstradition der USA: "China baut den Handel aus, aber ausgehend von einem niedrigen Ausgangswert – vor 20 Jahren spielte es noch gar keine Rolle."
Doch nicht nur China macht den USA Konkurrenz, auch lateinamerikanische Länder selbst streben auf der internationalen Bühne nach mehr Einfluss. Zum Beispiel: Brasilien. Die Brasilianer wollen sich als Sprecher für Südamerika profilieren, fordern einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat und versuchten, im Atomstreit mit dem Iran einen eigenen Weg zu gehen. Es gibt also reichlich Gesprächsstoff, wenn die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff am Montag (09.04.2012) Präsident Obama im Weißen Haus besucht. Nicht nur über den Gipfel der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Kolumbien in diesem Monat werden die beiden sprechen, sondern auch über den anstehenden G-20 Gipfel im Juni in Mexiko.
Ray Walser bezeichnet Brasilien als den "freundschaftlichen Rivalen" der USA. Das Verhältnis der beiden Staatsoberhäupter gilt als gut. Obama traf Rousseff bereits kurz nach deren Amtsantritt bei seinem Brasilien-Besuch im März 2011. Damals verabredete man Gespräche vor allem in drei Themenbereichen: Energie, Wirtschaft und Finanzen und Globale Partnerschaft. In Washington wird es unter anderem ein Treffen mit führenden Wirtschaftsvertretern geben. Helfen dürfte, dass Brasilien unter Präsidentin Rousseff seine Beziehungen zum Iran erheblich abgekühlt hat. Sie lehnte es kürzlich ab, den iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad auf seiner Lateinamerika-Reise zu empfangen.
Demokratische Maßstäbe aufweichen?
Beim OAS Gipfel muss Obama zeigen, dass die USA Lateinamerika nicht vernachlässigen
Das Verhältnis zum kommunistischen Kuba schließlich bleibt schwierig. Wenn Präsident Obama zum OAS-Gipfel nach Cartagena in Kolumbien reist, werden die Kubaner bei dem Treffen nicht dabei sein. Beim nächsten OAS-Gipfel ist das möglicherweise anders – und ein Problem, wie Ted Piccone erklärt: "Wenn die Rückkehr Kubas in die OAS die Unterminierung der demokratischen Prinzipien der Region bedeutet, dann wäre das ein schwerer Schlag für die Errungenschaften der letzten Jahre, in denen Demokratie als zentrales Thema in der Region definiert wurde."
Doch zunächst einmal steht das Treffen in Cartagena vor der Tür, und so erklären sich, sagt Ray Walser, zumindest teilweise die Begegnungen Obamas mit seinem mexikanischen Kollegen und der brasilianischen Präsidentin: "Das ist so etwas wie eine diplomatische Offensive, die zeigen soll: Ja, wir haben Lateinamerika auf dem Radarschirm." Doch nicht zuletzt die Wirtschaftskrise erschwert es der Regierung in Washington, ihren Einfluss beispielsweise über Finanzhilfen in der Region auszuweiten. Obama wird also an die gemeinsamen Interessen appellieren müssen. Er sollte auf dem OAS-Gipfel offene Wort finden und klar machen, so Walser, dass auch die lateinamerikanischen Staaten betroffen sind, wenn beispielsweise die Auseinandersetzung mit dem Iran eskaliert. Zumindest während des Gipfels sollte Lateinamerika ganz oben auf der außenpolitischen Prioritätenliste des Präsidenten stehen.
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